Russland: Kreml sucht Kanonenfutter

Diese Männer wurden bereits im vergangenen Herbst auf der Krim einberufen. Kriegsbegeisterung sieht anders aus. Bild: Abt. für Informationspolitik der Stadtverwaltung Jalta / CC BY 4.0

Offizielle haben im Herbst 2022 Nachteile einer Mobilmachung begriffen. Jetzt werben sie intensiv um Freiwillige. Was der Wegfall der Wagner-Truppe bedeutet.

Wer russischen und ukrainischen Quellen folgt, bekommt sehr verschiedene Bilder darüber präsentiert, wer angesichts der laufenden ukrainischen Gegenoffensive im Vorteil ist. Doch die Zusammenschau aller Quellen lässt an einem Fakt keine Zweifel: Es finden heftige Kämpfe an mehreren Frontabschnitten statt, die mit Sicherheit auch hohe Verluste fordern.

Wagner reißt ein weiteres Loch

Die toten und verwundet kampfunfähigen Soldaten an der Front wollen ersetzt werden, beide Seiten geben sich aktuell ja in keiner Weise kompromissbereit und halten an Maximalzielen fest. Auf der russischen Seite der Front kommt noch hinzu, dass die dort noch eingesetzten Einheiten der Militärfirma PMC Wagner nach dem Scheitern ihres Aufstands aufgelöst werden.

Wie viele von ihnen nun in reguläre Einheiten übertreten, mit Prigoschin nach Belarus gehen oder den Dienst quittieren, ist völlig unklar. Sie reißen auf jeden Fall eine Lücke in der Besetzung der russischen Fronttruppen, denn sie gelten als ebenso rücksichtslos wie kampferfahren. Sie fehlen dem Kreml nicht nur in der Ukraine.

Auch in Syrien und in Afrika war PMC Wagner in der Vergangenheit im (meist inoffiziellen) Kreml-Einsatz kämpferisch aktiv. "Wagner, auch wenn manchmal außer Kontrolle der offiziellen russischen Strukturen, war ein praktisches Machtinstrument für die Zusammenarbeit mit den Ländern der Nahen Ostens und Afrikas", analysiert die Arabistin Marianna Belenkaja, in Moskau tätig für die Zeitung Kommersant, die Lage.

Aktuelle Strategie: Gefangene statt Mobilisierte

Wie ersetzt man all diese Verluste? Die russische Seite kam hier nach den erfolgreichen Offensiven der Ukrainer vom Spätsommer 2022 auf die Idee einer Teilmobilisierung. Doch diese hatte mehrere, schwerwiegend negative Auswirkungen an der Front ebenso wie im Hinterland.

Die Einheiten mit Zwangsmobilisierten waren schlecht ausgebildet und wenig motiviert, die Zustimmung zur Invasion im Nachbarland in der Bevölkerung bröckelte und viele oft hoch qualifizierte junge Russen verließen das Land, um nicht im Feldzug ihrer Regierung den potentiellen Tod zu finden. All das führte für die russische Wirtschaft zu einem Arbeitskräftemangel.

So hat man auch von Seiten von Russlands Offiziellen aktuell das Ziel, so lange wie möglich eine weitere Mobilisierungswelle zu verhindern oder zumindest zu verschieben, die die genannten Effekte noch erheblich verschlimmern würde. Das Newsportal Bloomberg berichtet in diesem Zusammenhang vom verstärkten Einsatz etwa Tschetschenische Truppen und auch von russischen Strafgefangenen in der Ukraine, um dem "Personalmangel" zu begegnen.

Gefangene werden nun nicht mehr von Prigoschin, sondern vom Verteidigungsministerium selbst angeworben. 15.000 sollen laut Bloomberg auf diesem Weg schon in die Ukraine gekommen sein. Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow spricht zusätzlich von 7.000 eigenen Soldaten in der Ukraine, 2.500 weitere sollen noch ausgebildet werden.

Großangelegte Werbefeldzüge

Doch das reicht alleine noch nicht aus, um in der Ukraine zu bestehen. Dort kämpft man gegen einen Gegner, der die breite Kriegszustimmung als Angegriffener nutzt, um nach Möglichkeit alle wehrfähigen Männer an die Front zu bringen. Mit halber Kraft ist hier auch für das große Russland kein Erfolg des eigenen Feldzugs möglich.

So wird in Russland derzeit viel Werbung betrieben, Männer zum Eintritt in die Armee zu bewegen. Parallel veröffentlichen regierungsnahe Regionalzeitungen überall in Russland Artikel, in denen betont wird, dass sich sehr viele freiwillig melden, schildern sehr positiv die Bedingungen für Freiwillige und fordern am Ende dazu auf, sich diesem "Trend" anzuschließen – mit den entsprechenden Kontaktadressen.

Diese Pressemeldungen werden flankiert von weiteren Werbemaßnahmen. Der Osteuropaforscher Nikolay Mitrokhin von der Universität Bremen berichtet hier von Militärreklame ebenso auf der Rückseite von Stromrechnungen wie an zahlreichen Haltestellen des öffentlichen Personennahverkehrs.

Zweifel am ausreichenden freiwilligen Nachschub

Gerade die sich tatsächlich verbessernden Bedingungen sind ein Hinweis darauf, dass die Situation bei den Freiwilligen nicht so positiv ist, wie es die Behörden gerne hätten und wohl auch nicht ausreichen, die ständig neu entstehenden Lücken in der Kriegsfront aufzufüllen.

Man kann sich nun auch für kürzere Zeiträume verpflichten, wobei im Kleingedruckten erst steht, dass man danach nicht gleich ausscheiden kann, wenn man sich noch in der "Erledigung bestimmungsgemäßer Aufgaben" befindet, also im Kampf, berichtet die exilrussische Onlinezeitung The Insider. Die Entlohnung ist gut und wird auch beworben. Der Weg in den Krieg steht sogar Leuten offen, die gar keine russischen Staatsbürger sind.

Russlands Offizielle behaupten, auf diesem Weg ausreichend Soldaten zu finden, um die immer wieder aufkommenden Mobilisierungsgerüchte zu beruhigen. Ex-Premier Medwedjew erklärte erst im Mai, seit Jahresanfang hätten sich 117.400 Freiwillige für den Krieg gefunden. The Insider sieht diese Zahlen sehr kritisch und glaubt, dass hier auch Verträge eingerechnet würden von Leuten, die nach abgelaufenen Verträgen nur mit entsprechendem Druck ein weiteres Mal unterschrieben hätten - also keine echte Aufstockung der Invasionsarmee sind.

Sollte in Folge weiterer harter Kämpfe der Nachschub an neuen Soldaten nicht ausreichen, stellt sich doch die Frage, woher dann nichtfreiwillige neue Frontkämpfer kommen sollen.

Wehrdienstleistende sind hierbei eine Möglichkeit, die nach russischem Recht möglich wäre, aber in der Bevölkerung extrem unpopulär sind. Sie werden momentan auch zur Bewachung der russisch-ukrainischen Grenze eingesetzt, wo diese gleichzeitig die Front ist, weil nicht russisch besetzte Teile der Ukraine an Russland grenzen. Todesfälle unter den Wehrpflichtigen läsen hier trotz russische Pressezensur in der Presse der Herkunftsregion ein breites Echo aus.

Weitere Mobilisierung letztes Mittel, aber nicht ausgeschlossen

So bliebe als letzte Möglichkeit doch nur eine weitere Mobilisierung, vor allem wenn es um die Notwendigkeit der "Beschaffung" einer größeren Anzahl von Frontsoldaten geht, wie nach den erfolgreichen Offensiven des Gegners im Spätherbst.

The Insider rechnet mit einer solchen im Fall einer neuen Eskalation des Kampfgeschehens, die ein solches Handeln unumgänglich macht. Da ein Ende des Krieges nicht in Sicht ist, kann eine solche wohl in den nächsten Monaten nicht ausgeschlossen werden.

Nikolay Mitrokhin glaubt in seiner Analyse, dass der Kreml die begrenzte Unterstützung der Bevölkerung für den eigenen Feldzug versteht und ihn das aktuell noch daran hindert, drastische Schritte wie eine Massenmobilisierung oder eine Umstellung auf eine Kriegswirtschaft durchzuführen.

"Es ist jedoch offensichtlich, dass der Kreml immer weniger Spielraum hat, um zwischen der objektiven Notwendigkeit, den (…) Krieg zu beenden und den Forderungen verschiedener Einflussgruppen abzuwägen." Der Spielraum wird weiter enger werden, den gestorben wird auf beiden Seiten der Front, während die Politik überall Überlegungen anstellt, weiter.