Stereotypen überwinden: Was helfen würde, die Diversität zu erhöhen

Seite 3: Die Sache mit dem Halbwissen

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Bei Frauen ist das Umfeld meist wenig zimperlich, wenn sie sich nicht so verhalten, wie es das Klischee verlangt, hat Anna Maria Hartkopf während ihres Studiums erfahren. Sie habe "allein unter Männern studiert", berichtet die promovierte Mathematikerin an der FU Berlin. Das sei nicht einfach gewesen, denn während ihre männlichen Kommilitonen angesichts der vielen Übungsblätter im Studium immer Dinge sagten wie "Das ist ja einfach, das verstehe ich alles", habe sie selbst ihr gesamtes Studium lang sich gezweifelt – obwohl sie in den Klausuren stets gut abschnitt. Bis ihr ein Muster auffiel: "Meine männlichen Kommilitonen denken, dass ihr Halbwissen Wissen ist, während ich denke, dass mein Halbwissen Unwissen ist – am Ende wissen wir aber das Gleiche."

Die Mathematikerin Anna Maria Hartkopf forscht an der FU Berlin und hat allein unter Männern studiert. Während ihres Studiums und in ihrer akademischen Laufbahn hat sie selbst erfahren, wie groß die Widerstände der männlichen Kollegen sind, wenn Frauen zu Konkurrentinnen werden.

(Bild: Janine Kühn)

Auch auf der Ebene der Lehrenden liegen Steine im Weg. Etwa ein Professor, der sie als "zänkisches Weib" bezeichnete, nachdem sie ihn bei einem mathematischen Fehler korrigiert hatte. Oder ihr Abschlussprüfer, der ihr in der mündlichen Prüfung mit dem Argument eine Viertelnote Abzug gab: "Sie haben ja alles gewusst, aber Ihre Art …" "Heute würde ich eine Riesenwelle machen, aber damals bin ich aus der Prüfung rausgegangen und dachte: Mit mir stimmt was nicht", berichtet Hartkopf. Und auch wenn sie solche Themen heute lautstark thematisiert, spürt sie immer noch die unsichtbaren Grenzen.

"Solche Fälle haben System", sagt Anina Mischau, Leiterin der Arbeitsgruppe Genderstudies am Fachbereich Mathematik der FU Berlin. Anders als in der Informatik würden Frauen in der Mathematik zwar nahezu paritätisch mit Männern das Studium aufnehmen, berichtet Mischau. Aber mit jeder Ausbildungsstufe verschwinden die Frauen, sodass der Frauenanteil bei den Promotionen nur noch bei rund 25 Prozent liegt – und bei den Professuren noch viel niedriger. Anders übrigens in der Physik: Dort gibt es weniger Studienanfängerinnen, aber dafür verschwinden auch weniger auf den Sprossen der akademischen Karriereleiter. "Weil sie aufgrund ihrer geringen Anzahl keine Gefahr darstellen", sagt Mischau: Sie bekommen deshalb möglicherweise weniger Steine in den Weg gelegt, beobachtet die Forscherin, "denn sie nehmen den Männern kaum Stellen weg".

"Um zu verstehen, weshalb so viele Frauen die Mathematik verlassen und wieso so wenige in Führungspositionen sind, müssen wir uns die Fachkulturen anschauen", sagt Mischau. Angefangen vom akademischen Mythos des 24-Stunden-Wissenschaftlers bis zum männlich dominierten Gatekeeping gebe es vieles, was Frauen an diesen Strukturen und Vorstellungen scheitern lässt. "Wie rekrutiert man Nachwuchs?", sei eine ihrer Forschungsfragen, erklärt Mischau, "was tauchen für Stereotype auf, wem traut man etwas zu?"

In der Mathematik beobachtet sie, dass Männer anderen Männern Posten zuschieben – und zwar nicht unbedingt bewusst, sondern möglicherweise auch auf der Ebene unbewusster Vorurteile wie "Frauen sind nicht gut genug" oder "Frauen sind nicht ehrgeizig, die wollen ja Kinder". Generell suchen sich Männer eher ihresgleichen, wenn sich eine Position ergebe, so Mischau: "Frauen kommen gar nicht erst rein ins System. Man nimmt Leute, die man schon kennt, auf die man sich verlassen kann, gerade bei erfolgsorientierten Projektstellen. Aber ‚die man schon kennt‘ sind zu 80 Prozent Männer." Dazu kämen unbewusste vergeschlechtlichte Zuschreibungen, die oft auf einzelnen Erfahrungen beruhen, sagt Mischau: "So wie ‚Ich hatte mal eine Doktorandin, die wurde nicht fertig‘ – diese Stereotypen sind verdammte Alltagstheorien."

Besonders optimistisch, dass sich etwas ändert, ist Mischau nicht. "Das wird meist nicht als strukturelles Problem wahrgenommen", sagt sie. Häufig argumentierten Mathematiker und auch Mathematikerinnen damit, dass Mathematik schließlich eine objektive Wissenschaft sei, weshalb soziale Aspekte keine Relevanz hätten, klagt sie. Doch ohne die Einsicht, dass die Menschen, die die Mathematik betreiben, eben nicht objektiv sind, kann sich nichts ändern: "Wenn Auswahlkommissionen und die Lehrenden keine Schulung zum Thema Gender-Bias erhalten haben, hat man keine Chance, diesen Bias zu durchbrechen."

Die Forschungen von Sinah Gürtler an der FU Berlin haben inzwischen dazu beigetragen, dass es nun erstmals ein Seminar zu Gender und Diversity in der Informatik gibt, das sich Studierende der Informatik regulär anrechnen lassen können. "Es wird jetzt tatsächlich in die Prüfungsordnung integriert", sagt Gürtler. Das ist ein großer Erfolg, auch wenn sie es noch besser fände, wenn entsprechende Inhalte wirklich in allen wichtigen Seminaren vorkommen würden.